Annäherung an Orchestermusik mit und ohne Instrumente
Meinhard Ansohn
Praxisbeispiele aus der Grundschule
Orchestermusik galt in der Schulmusik noch in den 1960er Jahren als das Maß der Dinge. Die „Alten Meister“ „hören und verstehen“, das „musikalische Kunstwerk“ begreifen, das war ein gesetztes Ziel. Dafür waren eine Menge an Informationen auswendig zu lernen. Wissen zu Instrumenten und zu Musizierweisen der Musik von Bach bis Bartòk wurde angehäuft – ohne eigenes Tun.
Handlungsorientierung, Schülerorientierung, Aufbauender Musikunterricht kommen uns heute wie ein Gegenpol vor, als ob da kaum Umgang mit Orchestermusik stattfinden könnte. Entweder, es wird „Musik gemacht“, also gesungen, gespielt, getanzt oder es wird an den Musikvorlieben der Schülerinnen und Schüler entlang aktuelle Musik gehört und bestenfalls aktiv umgesetzt.
Dabei ist jedes Zusammenspiel ein Kosmos für sich. Orchester, Ensembles, Quartette, Duos, Bands aller Art leben im Spannungsfeld zwischen den einzelnen Spielenden und dem Ganzen. Wo, wenn nicht in der Schule, haben Kinder die Chance, Erlebnis und Reflexion für diese komplexe Tätigkeit zu üben? Dazu muss nimand Profi werden. Aber menschlich zu interagieren, kann allen gut tun.
Grieg – Morgenstimmung
„Heute spielen wir eine Musik zum Morgen. Wir gehen dazu in den Musikraum und nehmen uns ein paar Instrumente.“ Vielleicht hat ein Kind Instrumentalunterricht – bei uns in der Regel nicht. Es gibt ein Notenblatt in zwei Versionen (mit und ohne Buchstaben). Die einzelnen „Stimmen“ gibt es bei Bedarf auch allein, falls das Blatt jemandem zu unübersichtlich ist.
Eine Möglichkeit, die Stimmen kennenzulernen, ist, sie vorzuspielen. Dabei soll schon jedes Kind überlegen, ob es sich zutraut, diese Stimme zu spielen. Vielleicht können wir an einem Whiteboard das, was wir sehen mit dem, was wir hören, vergleichen. Welche Stimme schätzen wir als leicht ein, welche als schwieriger? Interessiert jemanden ein bestimmter Klang oder ein bestimmtes Instrument?
Einen Takt immer zu wiederholen, ist für Ungeübte entlastend, für Geübte oft langweilig. Eine zweitaktige Phrase ebenso. Eine Stimme mit Achtelnoten kann technisch Mühe machen. Hier geht es darum, alle Entscheidungen der Kinder für oder gegen eine Stimme zu achten und anzunehmen. Manchmal muss ein Ausgleich gefunden werden, wenn nicht genügend Instrumente da sind. Bei neun Stimmen und einer Klassenstärke von 25 kann es nötig sein sich abzuwechseln. Bei Wechselunterricht und nur 12/13 Kindern wird es kaum Dopplungen geben. Dafür muss vielleicht jemand zwei Stimmen lernen, damit im Zusammenspiel alles vertreten ist.
Der Sechsvierteltakt als wiegender Zweiertakt zu je drei Schlägen kann vor dem Lernen der Stimmen noch mal mit Schritten am Platz (links-rechts und mit je drei Klatschern) erfühlt werden. Nach einer Lern- und Übungsphase an den Instrumenten spielen alle ihre Stimme vor. Dann probieren wir sie zusammenzusetzen: Melodie plus eine Begleitung, mehrere Begleitstimmen, alle zusammen. Verschiedene Mischungen ergeben verschiedene Klangerfahrungen.
Wahrnehmungen, Einschätzungen und Veränderungen
Etwas zu hören ist nun noch keine Erfahrung. Im handelnden Umgang gewinnen wir Erfahrungen und darüber zu sprechen, macht Erfahrung „dingfest“. So tauschen wir uns aus: Wer hat laut gespielt, wer leise? War etwas zu laut oder zu leise? Kann ich neben meinen Nachbarn gut spielen oder sollten wir die Plätze tauschen? Wie klingt ein Aufbau der Musik mit immer einer Stimme mehr? Ist das Tempo gut so? Bei wie vielen Durchgängen wird die Musik jemandem „langweilig“?
Spätestens wenn wir merken, dass es unterschiedlichen Geschmack gibt, unterschiedliche Vorlieben und Abneigungen, sollten wir verschiedenen Versionen Raum geben und einzelne Kinder Dirigier-Erfahrungen, also Entscheidende und Zeichengebende sein lassen.
Hören eines Orchesterstücks
In einer nächsten Stunde hören wir den Anfang der Morgenstimmung, einer orchestralen Programmmusik. Wir können nun viel über die Entscheidungen des Komponisten sagen. Z. B. hebt er die Melodie sehr bald auf eine andere Stufe. Zu lange dieselbe Tonart wäre wohl langweilig. Er wechselt Klangfarben. Er steigert die Lautstärke. Ob der Dirigent hier eigene Entscheidungen getroffen hat? Das wissen wir erst, wenn wir eine andere Version hören würden. Vielleicht etwas viel für diese Grundübungen des Musikhörens.
Eine einfachere formale Arbeit wäre, zu zählen, wie oft die Grundfigur der ersten vier Töne in diesem Abschnitt vorkommen. Hört sie auch jemand in der Begleitung der tiefen Instrumente, der Kontrabässe?
Das beliebte Malen eines Sonnenaufganges beim Hören der ganzen Musik ist eine mögliche Erweiterung der formalen und genuin musikalischen Herangehensweisen und kann die emotionale Beziehung zum Stück festigen. Es kommt auf die Klasse und die Situation an, ob das so zutrifft oder ob das Potenzial dieser Musik im Moment ausgereizt ist.
Ravel – Boléro
Eine kleine Geschichte: Morgens, wenn viele noch schlafen, zieht eine leise Melodie durch die Stadt. Eine zarte Trommel trägt sie durch die Straßen. Hören des ersten Ausschnitts und Spontanäußerungen. Was möchte die Melodie? Sie möchte Mitmachende gewinnen, so wie die Bremer Stadtmusikanten. Aber sie will nicht nach Bremen. Sie geht immer im Kreis und immer mehr machen mit. Sie wird lauter und lauter und lauter. Hören des zweiten Aus- schnitts.
Was können wir vermuten: Wie geht das aus, wenn es kein Ziel gibt? Geht die Melodie am Ende wieder leise aus der Stadt heraus? Setzt sie sich auf den Marktplatz und schläft ein? Was kann ihr noch passieren?
Gruppenimprovisation und -komposition
Wir greifen die Lust am „Musik erfinden“ auf und lassen die Lernenden sich in kleine Gruppen à 4–6 Kinder zusammenfinden. Sie brauchen ein bis drei Melodieinstrumente, eine begleitende Kleinpercussion oder Trommel und ein Kind, das „verwaltende Tätigkeiten“ ausführt. Es muss auf die zur Verfügung stehende Zeit achten. Außerdem soll es aufschreiben, wer bei der Arbeit am meisten gesagt hat, darf aber auch eigene Ideen beisteuern.
Jetzt kann ausprobiert werden. Eine Folge von Tönen muss gefunden werden, die man leise und laut spielen kann. Ob es etwas ist, das früher schon mal gelernt oder geübt wurde oder ob ganz neue Tonfolgen ausprobiert werden, ist egal. Dann wird die Tonfolge mehrmals gespielt und dynamisch gesteigert. Irgendwo muss entschieden werden, wie der Schluss gehen soll: Alles wieder leiser werden lassen, eine Art Endpunkt finden, verlangsamen?
Alle Gruppen spielen ihre Ergebnisse vor. Ein Vorspiel wird von den anderen Kindern kommentiert, sowohl nach Kriterien (Wie ist das Stück musikalisch zusammengesetzt?), als auch nach Ästhetik (Wie gefällt mir das? Was spricht mich besonders an?) Das „verwaltende“ Kind berichtet kurz darüber, ob die Ideen von einem oder mehreren Kindern ausgingen, wie die Zusammenarbeit war, ob man sich immer einig war, ob es Alternativvorschläge gab usw.) Manchmal ist eine Präsentationsrunde eine ganze Unterrichtsstunde lang. Diese Zeit kann aber besonders wertvoll werden, wenn dabei gelernt wird, wie unterschiedlich solche Prozesse sein können und dass es keine eindeutigen oder einseitigen „Bewertungen“ von den reinen Ergebnissen geben kann.
Eine Schlusslösung von Ravel
Am Schluss der Einheit hören wir uns den Schluss von Ravels Bolero an – einen regelrechten Zusammenbruch im Lärm.
Wenn das Stück neugierig machen sollte, lässt sich gut in höheren Klassen das Ganze noch mal hören um die Entwicklung ganz mitzubekommen.
Bach – Badinerie
Die Melodie der Badinerie (Spaß, Schäkerei, Geplänkel) ist a) berühmt, b) schnell, c) alt, d) französisch. Alles stimmt, außer d. Sie ist deutsch, aber dem französischen Barockstil entlehnt. Ein möglicher Zugang zu dieser ansprechenden Musik ist der Bearbeitungsvergleich.
Dazu nehmen wir erst einmal nur einen Melodieteil, spielen eine Fassung an, „die ich heute früh in meiner Sammlung gefunden habe.“ Wer kann sich vorstellen, dass das Stück tanzbar gewesen sein soll? (Tatsächlich ist es nur ein angehängtes virtuoses Stück Leipziger Kaffeehausmusik gewesen.) Der Frage gehen wir nach, indem wir leise mit den Fingern klatschen: bam bam bam bam / bababam bababam / bam bam bam bam / bababam bababam / bababam bababam / babababa babababa / babababa babababa / bababambabababam.
Ist es vorstellbar, in dem Tempo dazu zu tanzen? Kaum. Aber zu zeigen, wie virtuos man spielen kann, dafür ist das Stückchen gut. Und wir können mit unseren reduzierten Rhythmen die Form ein bisschen nachvollziehen.
Dann hören wir eine Folge von Versionen. Dazu werden Blätter zur „kleinen Badinerie-Show“ ausgeteilt.
Aufgabe: Ordne zu, welche Version du hörst und nummeriere sie nach der gespielten Reihenfolge. Wir spielen ab: German Brass – Ekseption – Percussion Ensemble – Swingle Singers – Barocksolisten – Galway.
Über den Umgang mit Tönen und Mitmusizierenden
Wie im Musikraum zur eigenen Musik lässt sich darüber sprechen, welche Version am besten gefällt. Und bei welcher Fassung man, sofern man es könnte, am liebsten mitspielen würde. Wer möchte eigentlich mal ein Instrument richtig lernen? Wer will in einer Gruppe mitspielen? Oder ganz allein Musiker sein? Wer glaubt, Musik sollte man so lassen, wie sie komponiert wurde? Wer meint, dass man jede Musik verändern könnte und dass das schön wäre?
Wer kann sich vorstellen, dass auch Bandmitglieder in Streit geraten können wie z. B. bei Ekseption Rick van der Linden (Orgel) mit Rein van den Broek (Trompete) darüber, wer von ihnen der Chef ist – bis schließlich einer von beiden gehen musste? Wie fühlt sich das an, etwas nicht zu schaffen, was man gern könnte?
Williams – Star Wars und Harry Potter
Berühmte Filmmusikthemen haben viele Menschen im Gedächtnis. Das ist die „Klassik“ unserer Zeit.
Oft wird Musik aus dem 17.–19. Jahrhundert als Filmmusik benutzt und man kennt sie nur im Zusammenhang mit den Bildern, als sei das schon immer Programmmusik gewesen.
John Williams ist einer der großen „Klassiker“ des 20. Jahrhunderts. Zwei seiner Filmthemen sind einprägsam und tauchen in großen Filmzyklen variiert immer wieder auf. Das Star-Wars-Thema ist – groß, laut und blechern – ein Posaunenthema, während bei Harry Potter die bekannteste Melodie von einer Art Glockenspiel, vielleicht einer Celesta oder einem Computersound ins Ohr wandert und dort – auch wegen der „schiefen“, geheimnnisvollen Töne – lange bleibt (vgl. MUSIK in der Grundschule 3/2016 „Zauberlehrlinge im Musikraum“).
Das wuchtige Thema der Macht und das zarte Zauberthema der schwebenden Eule haben etwas gemeinsam. Wenn sie vorbei sind oder schon während ihrer Erkennungsmelodie werden sie abgelöst, eingefangen, in eine entspannte Strecke entführt durch die klassischsten der klassischen Instrumente. Weiß schon jemand, welche gemeint sind? Wir haben vergessen, dass die Musik so weitergeht, aber wenn wir nur genau lauschen, werden wir es hören.
Erfahrung der scheinbar nebensächlichen Instrumente
Wir hören erst stehend das Star-Wars-Thema und setzen uns hin, wenn die etwas ruhigeren Klänge stärker sind, die nicht mehr zum großen Blasorchester gehören. (Sie sind vorher auch schon da, aber ganz zurückhaltend.) Bei Harry Potter machen wir es umgekehrt. Wir stehen auf, wenn die dazukommenden Instrumente eher Spannungen, Wirbel, kleinen Aufruhr und dann auch die großen Blasinstrumentengeschwister dazuholen.
Wir können darüber sprechen, warum die Streichinstrumente anscheinend fast immer im Orchester dabei sind, auch im modernen Filmorchester. Wenn wir ganze Stücke aus diesem Genre hören, werden wir überrascht sein, wie oft Streichinstrumente zu hören sind und besondere Stimmungen machen.
Auf einem schönen Orchesterbild kann sich jede und jeder mal seinen Lieblingsplatz aussuchen und erzählen, warum der ausgewählt wurde.