Musik & Bildung – Ausgabe 3.17 Leseprobe

Farbe, Bewegung, Charakter

Aktive Zugänge zu „klassischer Musik“ am Beispiel von
Béla Bartóks „Konzert für Orchester“

Tobias Hömberg

 

Der vermeintlich hohe Anspruch „klassischer“ Orchestermusik und das mit ihr verbundene soziale Prestige führen nicht selten zur Abgrenzung Jugendlicher von diesem musikalischen Genre. Im vorliegenden Beitrag wird gezeigt, wie solche Barrieren mithilfe aktiver Zugänge überwunden und nebenbei musikalische Gestaltungsprinzipien kreativ erfahren werden können.

Das Konzert für Orchester von Béla Bartók stellt nicht nur eine bedeutende Weiterentwicklung der konzertanten Gattung im 20. Jahrhundert dar, sondern bietet in seiner außergewöhnlichen Klangsprache ein besonderes Hörerlebnis, das auch die musikalischen Erfahrungen von SchülerInnen bereichern kann. Der zweite Satz, das Spiel der Paare, überträgt das Prinzip des Konzertierens als musikalischen Wettstreit auf die Bläser des Orchesters und verdichtet den lebhaften Kontrast unterschiedlicher Charaktere auf engstem zeitlichem Raum.
Anstatt zu versuchen, SchülerInnen das Stück in der häufig schmalen Perspektive traditioneller „Werkbetrachtung“ nahezubringen, sollten sich ihnen Wege eröffnen, auf denen sie selbst der Musik aktiv näherkommen können. Die Übertragung in andere künstlerische Darstellungsweisen wie Bilder, pantomimische Bewegungen und literarische Texte, ermöglicht dem eigenen musikalischen Erleben kreativ Ausdruck zu verleihen. Neben dieser subjektiven Aneignung werden implizit musikalische Strukturen erschlossen, indem die Aufmerksamkeit unmittelbar auf das Erklingende gerichtet ist. Dazu tragen die hier vorgeschlagenen Ansätze und Impulse bei.
Die drei vorgestellten transformatorischen Verfahren stellen unterschiedliche Anforderungen an die SchülerInnen. Während das Malen von Klangfarben und das assoziative Beschreiben von Ausdruckscharakteren eine jeweils individuelle Auseinandersetzung mit der Musik Bartóks bedeuten, ist die Gestaltung einer gemeinsamen Performance aus Bewegungen zum Stück eine kooperative Aufgabe. Je nach Vorerfahrungen und Interesse der Gruppe können so alternative Zugangsweisen angeboten werden, vielleicht sogar mit der Möglichkeit einer persönlichen Auswahl durch die SchülerInnen.


DAS „KONZERT FÜR ORCHESTER“

Bartóks Konzert für Orchester entstand im Jahr 1943 in Saranac Lake im Staat New York. Als erstes neu komponiertes Werk nach der Immigration in die USA markiert es das Ende einer mehrjährigen Schaffenspause. Bartók, seit 1942 an Leukämie erkrankt, erfüllte damit einen Kompositionsauftrag des Boston Symphony Orchestra unter Sergej Koussevitzky. Die Uraufführung am 1. Dezember 1944 in Boston, mehr noch deren Wiederholung in New York, wurde zum großen Erfolg und leitete unverhofft eine letzte große Phase des Komponisten ein, die ihm weitere große Aufträge einbrachte.
Die Idee eines Konzerts, in dem an die Stelle eines einzelnen Soloinstruments das gesamte Orchester als vielstimmiger facettenreicher Klangkörper rückt, war zu diesem Zeitpunkt nicht neu. Bereits mit dem aufkeimenden Neoklassizismus und Neobarock ab Mitte der 1920er Jahre hatte eine Renaissance der konzertanten Gattung eingesetzt. Im Sinne einer Erweiterung der kompositorischen Möglichkeiten erfanden Komponisten wie Strawinsky und Hindemith erstmals Konzerte für Orchesterbesetzungen. Unter diesen Werken dürfte Bartók zumindest das 1939 verfasste, einsätzige Konzert für Orchester seines Landsmannes Zoltán Kodály bekannt gewesen sein. Bartóks eigenes Konzert für Orchester übertrifft dessen Dimensionen jedoch in vielfacher Hinsicht: In der umfangreichen Besetzung, der fünfsätzigen Anlage und der imposanten Monumentalität der Ecksätze offenbart es geradezu sinfonische Konturen.
Kopfsatz und Finale sind an der Sonatenhauptsatzform orientiert. Der mit Elegia überschriebene dramatische Klagegesang im Zentrum des Konzerts erscheint eingerahmt durch zwei kürzere, tänzerisch geprägte Sätze. Die Verheißung des Titels wird über die unterschiedlichen Formbildungen und Ausdruckscharakteristiken hinweg eingelöst, indem das Orchester selbst gewissermaßen zum „Thema“ des Werks wird.


DAS „SPIEL DER PAARE“

Die solistischsten Partien im Konzert für Orchester sind den Bläsern zugedacht. Der zweite Satz (HB 3–5) gerät förmlich zum Paradestück für Holzblasinstrumente und Trompeten. Im Giuoco delle coppie, dem ausgelassenen Spiel der Paare, treten Fagotte, Oboen, Klarinetten, Flöten und gedämpfte Trompeten nacheinander in einen rasanten Reigen ein. Die repräsentativen Miniaturen reizen die instrumententypischen Spieltechniken und Klangcharakteristika voll aus: eine breite Palette differenzierter Artikulationsweisen ebenso wie jeweils besonders sonore Register. Darüber hinaus eignet Bartók jedem der Instrumentenpaare ein charakteristisches Intervall zu. Die Fagotte bewegen sich, unter burlesken Synkopen und Trillern, in parallelen großen und kleinen Sexten, die Oboen eilen in großen und kleinen Terzen. Die Klarinetten schlagen neckische Kapriolen in kleinen Septimen, die Flöten schwingen sich in strahlenden Quinten in höchste Lagen hinauf. Der ohnehin stechende Klang der gedämpften Trompeten gewinnt durch die Reibung der großen Sekunde seine prägnante Schärfe. Gemischt mit dem charakteristischen Eigenkolorit der Instrumente entstehen so originelle, bisweilen groteske klangliche Schattierungen. In der Mitte des Satzes kommt das muntere Wogen der Paare vorübergehend zum Stillstand. Die Kleine Trommel, die bereits die Einleitung des Satzes bestritten hatte, beschließt den Tanz. Ihre verschrobenen rhythmischen Versatzstücke bereiten die Bühne für den erhabenen Auftritt eines Blechbläser-Ensembles: Trompeten, Posaunen und Tuba zelebrieren einen feierlichen Choral. Im Kontrast zum bewegten Hauptteil des Satzes wirkt das homophone, gleichförmige Schreiten geradezu archaisch. Dumpfe Schläge der Kleinen Trommel kommentieren diese Prozession, der sich zuletzt auch die Hörner anschließen.
Nun beginnt das Spiel von vorn. Fagotte, Oboen, Klarinetten, Flöten und Trompeten bestätigen ihre einprägsamen Erscheinungen durch einen erneuten Auftritt. In der Reprise sehen sich die charakteristischen Themen ergänzt durch hinzutretende polyfonische und kontrapunktische Begleitungen gleicher oder anderer Instrumente. Schließlich verschmelzen die Bläser in einem gemeinsamen Akkord, der aus der Mischung ihrer spezifischen Intervalle entsteht – der heitere Wettstreit findet ein harmonisches Ende.


KLANGFARBEN MALEN

Ein erster aktiver Zugang zum zweiten Satz des Konzerts für Orchester besteht darin, die Musik malend umzusetzen (AB 1). Wird das Spiel der Paare ins Bild gesetzt, kommen verschiedene Wahrnehmungsebenen zum Tragen. Zum einen wird die synästhetische Empfindung der Klangfarblichkeit in der Wahl subjektiv passender Farben ausgedrückt. Zum anderen nehmen die individuellen Melodiebewegungen der Instrumente auf dem Papier sichtbare Gestalt an. Als Malmittel eignen sich Aquarellfarben, eventuell auch dicke Buntstifte oder Wachsmalkreiden. Um den expressiven Figuren ausreichend Raum zu geben, werden Papierbögen in DIN-A2 oder DIN-A3 benötigt. Als Einstieg in das abstrakte Malen zum Spiel der Paare beginnen die SchülerInnen zunächst mit einer Skizze, die parallel zum Erklingen der ersten Hälfte des Satzes entsteht (HB 3 + 4). Die Malbewegungen folgen unmittelbar den Höreindrücken und binden die Darstellung so eng an das musikalische Geschehen. Je nach Fokus entstehen an grafische Hörpartituren erinnernde Linien oder freie, die Atmosphäre des jeweiligen Klangabschnitts aufgreifende Strukturen. Mit jedem neuen Abschnitt wird unter spontanem Eindruck die Farbe gewechselt, sodass die kontrastreichen Formen der Instrumentenpaare sowie des Blechbläser-Chorals sich in einem vielfarbigen Bild begegnen.
Der Verständigung über den Aufbau der Musik mit ihren sechs größeren Abschnitten, die aus den Skizzen rekonstruiert werden können, schließt sich eine Phase der künstlerischen Überarbeitung an. Dabei können die SchülerInnen nach erneutem Hören entscheiden, ob sie ihre Skizze weiter ausgestalten wollen oder ein neues, unter dem Gesamteindruck vielleicht noch stimmigeres Bild malen möchten. Bei ausreichend verfügbarer Zeit können hier individuelle Farben gemischt und verschiedene Arten der Gestaltung erprobt werden. Währenddessen erklingt die erste Hälfte des Satzes einige weitere Male.

Die Präsentation der entstandenen Werke erfolgt in Form eines Galerie-Rundgangs, bei dem die Bilder im Raum ausgestellt und von allen betrachtet werden. Die Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede in der Darstellung regen ein Gespräch über die persönlich empfundene Wirkung der Klangfarben, der musikalischen Formen und des Kontrastes der unterschiedlichen Themen an.


BEWEGUNGEN VERKÖRPERN

Ein zweiter aktiver Zugang zum Werk Bartóks ergibt sich daraus, das Spiel der Paare in Bewegungen umzusetzen (AB 2). Die tänzerischen Auftritte der Instrumente mit ihren typisierten Melodieführungen und nuancierten Artikulationen werden dabei in demonstrative Haltungen, Schritte und Gesten übertragen und so körperlich erfahrbar. Für die Entwicklung und Einstudierung pantomimischer Performances zur Musik sollten idealer Weise zwei parallel nutzbare Räume zur Verfügung stehen.
Die Erarbeitung beginnt mit einer Vorübung. Sie dient als Erwärmung zum einen dazu, in Bewegung zu kommen. Dabei sollten die SchülerInnen ermutigt werden, den ganzen Körper einzubeziehen. Zum anderen werden bereits erste Ausdruckselemente erprobt, die später in die Performance Eingang finden können. Hier sind die Jugendlichen angehalten, sich auf die Musik zu konzentrieren: Mit wechselnden musikalischen Abschnitten gehen veränderte Körperbewegungen einher (HB 3 + 4).
Dem paarweisen Auftreten der Blasinstrumente entsprechend finden sich die SchülerInnen in Zweiergruppen zusammen, die jeweils eine der Instrumentenpaarungen repräsentieren. Unter Einbezug des Blechbläser-Chorals sind sechs verschiedene Abschnitte darzustellen, was innerhalb einer Klasse Mehrfachbesetzungen zur Folge hat. Sie kann sich für die Erarbeitungsphase in zwei räumlich getrennte Übungsgruppen teilen. In einem Raum laufen in mittlerer Lautstärke die Themen der Fagotte, Oboen und Klarinetten in Schleife (HB 3), in einem anderen die der Flöten, Trompeten und des Blechbläser-Ensembles (HB 4). Auf diese Weise erklingt die Musik jeder Zweiergruppe in häufiger Wiederholung.
Im nächsten Schritt werden die einzelnen pantomimisch-tänzerischen Gestaltungen der SchülerInnen zu einer Gesamtperformance arrangiert. Gemäß dem von Bartók ursprünglich angedachten Titel Presentando le coppie stellen sich die Paare nacheinander mit charakteristischen Bewegungen zu ihrer Musik dem Publikum vor. Die kurzen Überleitungen der Streicher und der Kleinen Trommel können als Auf- und Abtreten inszeniert werden. Als Erweiterung kann die zweite Hälfte des Satzes, die an den Mittelteil der Blechbläser anschließt, hinzugenommen werden (HB 5). Diese zweite Runde bestreiten die SchülerInnen nun mit improvisierten Bewegungen, die ihrem zuvor entwickelten Repertoire entstammen.
Den Abschluss – nach gelungener Gesamtaufführung – bildet wiederum ein Vergleich der verschiedenen Verkörperungen, die auf die Musik rückbezogen werden. Sind mehrere Besetzungen aufgetreten, können zudem die parallelen Varianten erörtert werden.

CHARAKTERE BESCHREIBEN

Ein dritter aktiver Zugang zur Musik Bartóks öffnet sich, indem sie literarisch umgesetzt wird (AB 3). Zwar hat das Spiel der Paare über den Titel hinaus kein bekanntes, konkretes Programm, die Struktur des Satzes kann aber als Blaupause für unterschiedliche erzählerisch zu entfaltende Assoziationen dienen. Hierfür brauchen die SchülerInnen lediglich Schreibwerkzeug und einige Seiten Papier.
Im Mittelpunkt stehen die Eigenheiten der sechs verschiedenen Themen des Satzes. Sie können als Figuren mit charakteristischen Merkmalen und Verhaltensweisen aufgefasst werden, die hier der Reihe nach ins Geschehen eintreten. Welchem Lebens- und Erfahrungsbereich der SchülerInnen diese Figuren angehören können, ist ihrer Fantasie überlassen und soll in einer ersten Hörphase ergründet werden (HB 3 + 4).
Um die Szenerie genauer zu verorten, ist anschließend eine treffende Überschrift zu finden. Dabei können Vorschläge unterbreitet werden, die allerdings die Assoziationen der SchülerInnen nicht beschneiden sollten. Den im Arbeitsauftrag vorgeschlagenen Betitelungen ist gemein, dass sie Begegnungsräume unterschiedlicher Figuren mit signifikanten äußerlichen Erscheinungen und plakativen Ausdrucksweisen beschreiben. Die musikalisch auskomponierten Eigenschaften der sechs Abschnitte sind beim erneuten Hören näher herauszuarbeiten. Dabei greifen die SchülerInnen auf ihr vorhandenes Vokabular an beschreibenden Adjektiven sowie Verben für Rede- und Verhaltensweisen zurück. Auch metaphorische Vergleiche können herangezogen werden.
Es folgt eine ausgedehnte Schreibphase, während die Musik nach Bedarf einige weitere Male erklingt. Die Gesamtform des Satzes gibt den Aufbau der zu verfassenden Erzählung vor: Nach einer Einleitung werden die Figuren ausführlich vorgestellt. Die sich fortspinnende „Handlung“ kann, mit Bezug auf die Interaktion der Instrumente in der zweiten Hälfte des Satzes (HB 5), in geraffter Form zusammengefasst und zu einem stimmigen Schluss geführt werden.

Auch diese Art der Adaption bietet Anhaltspunkte, die entstandenen Texte nach einer Lesung an die Musik rückzubinden. Dabei kann unter anderem das Verhältnis von dichterischer Freiheit und Orientierung an der musikalischen Gestaltung zur Sprache kommen.

ZUR WEITERARBEIT

Alle drei vorgeschlagenen Zugänge stellen zuerst persönliche Auseinandersetzungen mit dem Spiel der Paare dar. In der produktiven Übertragung ins jeweils andere künstlerische Medium entstehen eigene Versionen des Werks, die in ihrer individuellen Qualität zu würdigen sind.
Nichtsdestoweniger eignen sich die aktiven Herangehensweisen auch, eine nähere Betrachtung der Musik Bartóks vorzubereiten. Mit Blick in den Notentext wird ersichtlich, dass sich viele der wahrzunehmenden Ausdrucksmomente unmittelbar in der musikalischen Gestaltung wiederfinden lassen (AB 4). So suggeriert bereits das Druckbild der Oboenstimme mit dichtgedrängten Sechszehntelnoten ein rastloses Fortlaufen, die großen Bögen und gedehnten Notenwerte des Blechbläser-Chorals bedeuten behagliche Ruhe usw. Die präzise vorgezeichnete Artikulation lässt sich ebenso ablesen wie die je spezifische Intervallführung der Instrumentenpaare. Die empfundene Wirkung kann so von den SchülerInnen durch farbige Markierungen und eingefügte Stichworte an der Musik selbst „festgemacht“ werden.
Zuletzt lässt sich am Beispiel des Satzes das Prinzip des Konzertierens mustergültig beschreiben. Das musikalische Wetteifern findet Ausdruck in den gemalten verschiedenfarbigen Formen, in den pantomimischen Auftritten der Paare, im erzählerisch gestalteten Dialog der fiktiven Figuren. So verbindet sich die kreative Aneignung der Musik mit Erfahrungen, die zugleich in kompositorische Strukturen hineinführen.

Einzel-Beitrag als PDF erhältlich, inkl. sämtlicher Arbeitsblätter und Noten.