Musik in der Grundschule – Ausgabe 4/19 Leseprobe 1

Musik am Morgen, am Tag und am Abend

Meinhard Ansohn

Erleben wir Musik morgens, mittags, abends unterschiedlich? Welche Musik wählen wir aus, wenn wir z. B. nach der Schule oder in den Ferien unsere Zeit selber musikalisch bereichern? Und was haben wir davon, wenn wir morgens in der Schule Abendlieder singen?

Im Jahr 2017 führten wir, eine 6. Klasse einer Berliner Grundschule, ein Projekt durch, in dem wir uns mit der Frage beschäftigten: Wie hängt Musik mit Tageszeiten zusammen? Gibt es überhaupt Musik für bestimmte Tageszeiten? Warum fühlt es sich merkwürdig an, wenn wir morgens in der Schule ein Abendlied lernen bzw. warum lernen wir so wenig Abendlieder morgens früh? Welche Musik suchen wir uns selber aus, wenn wir von der Schule nach Hause kommen und warum?
Einige Ergebnisse finden sich in der Sammlung auf Seite 11, die am Ende des Projekts entstanden ist und ein paar Wochen als Plakat in unserer Schule hing. Interessant daran waren die Kommentare, die stichwortartig dazugekritzelt wurden und zeigen, dass es hier durchaus um Themen geht, die viele berühren: Von merkwürdigen Klingeltönen, mit denen geweckt wird, über Songs, die man sich nachmittags von Youtube oder sonstwoher holt, bis zu den Einschlafmelodien, die noch lange nach dem Babyalter, wenn auch zunehmend verborgen, von aufziehbaren Kuschel-Spieluhren abgerufen werden.
Man muss kein ganzes Projekt mehrere Wochen lang dazu beackern, sondern vielleicht nur einen Punkt herausgreifen und sich darüber in der Klasse austauschen. Auf jeden Fall ist das Thema „Welche Funktion hat Musik bei mir im Tagesablauf?“ mal eine Abwechslung zu den kleinen musikunterrichtlichen Bausteinen Lied, Tanz, Rhythmusstück usw. Es setzt voraus, dass ein Minimum an verbaler Kommunikation stattfinden kann und Interesse an dem besteht, was jemand anders denkt und sagt. Und dass Kinder schon ein bisschen von der lebensnotwendigen Fähigkeit besitzen, sich selbst zu reflektieren.
Für das große Projekt hatte sich die Klasse in fünf Gruppen eingeteilt und jeweils eine Mindmap erstellt, welche Musik zum Morgen, zum Vormittag, zum Nachmittag, zum Abend und zur Nacht passen könnte. Hier kommen einzelne Aspekte aus diesen Sammlungen, mit denen wir etwas musikalisch erarbeitet haben. Sie können als Ideensammlung für kleine Unterrichtseinheiten dienen.

Der Morgen – Klänge und Musik zum Aufwachen

Was ist das Erste, was ich morgens höre? Wir erstellen eine Zeitleiste vom frühesten bis zum spätesten Aufweckpunkt. Kinder bringen ihre Wecker mit oder dürfen (ausnahmsweise) ihre Handys für diesen Unterrichtsteil benutzen, wenn sie Klingeltöne darauf haben, mit denen sie sich wecken. Manche imitieren ihre Mama („Guten Morgen, Spatz, es ist Aufstehzeit!“) oder die große Schwester („Hanin, du musst zur Schule!!!“) oder tragen ein dreifaches festes Türklopfen zu unserer Weckmusik bei.
Wir zeichnen eine Tabelle und geben jeder Spalte eine Uhrzeit. In die Zeile darunter tragen wir den Namen des Kindes ein, das geweckt wird und geben ein Stichwort dazu (Klingeltonname, Wecker, Mama, große Schwester, Klopfzeichen usw.) Dann machen wir daraus ein Live-Weckkonzert, indem hintereinander die Wecksignale abgespielt werden.

Was kann man am Ablauf ablesen? Gibt es ganz früh mehr Handyklingeltöne und später mehr weckende Personen? Unser erstes Projekt dieser Art legte das nahe. Man muss sich früh oft selber wecken und später ist der Frühstückstisch schon fertig und man wird geweckt. So war es in dieser Gruppe. Ist es eigentlich für uns von Bedeutung, was wir morgens als Erstes hören? Und hört sich das meistens spätere Wecken in den Ferien anders an? Fühlt es sich anders an? Spannend, darauf einmal zu achten.
Unser Live-Weckkonzert haben wir einer dritten Klasse vorgespielt und die Kinder gefragt, ob sich ihre Wecker zu Hause genauso anhören. Tatsächlich gab es dort weniger Handywecker und mehr Personen aus dem Haushalt, die mit Worten weckten. Für unsere 6. Klasse ein Zeichen für das Älterwerden, für mehr Eigenverantwortung?
Zum Abschluss dieser Arbeit haben wir alle Wecker und eindeutigen Weck-Klingeltöne mal gleichzeitig, mal kurz hintereinander einsetzend abgespielt und waren der Meinung, diese „Musik“ müsste auf jeden Fall jeden Langschläfer wecken. Dass es so etwas Ähnliches als Musikstückanfang tatsächlich gibt, war anschließend für viele Kinder ein Grund zum genau Hinhören.

Der Vormittag – Musik in der Schule

War der Morgen eine ganz persönliche Angelegenheit zu Hause, so ist der Vormittag die Zeit, die wir fünf Tage in der Woche gemeinsam verbringen. Wir haben zweimal Musik in der Woche, noch, muss man leider sagen: In manchen Bundesländern gibt es Musik in der Grundschule schon länger nur einstündig. Keine Zeit für vertiefende Projekte mit Musik im Zentrum, es sei denn, KollegInnen geben Zeit ab oder machen mit.
Die Kinder, die sich den Vormittag als Gruppenprojekt vorgenommen hatten, hatten eine große Auswahl an Aktivitäten zur Verfügung. Sie fanden typisch für den Vormittag in unserem Musikraum die große Zahl an Percussioninstrumenten. In denen steckt Musik drin, die wir selber machen. Da wir damals im November kurz vor der Weihnachtszeit standen, fanden die Kinder es eine gute Idee einen Weihnachtsrap zu schreiben.
Ein paar kleine Tipps vom Lehrer zu Trommel- und Sprechrhythmen wurden eingeholt und bald bildete ein viertaktiger Rhythmus den Beat als Grundlage für kurze gesprochene Sätze, die das persönlich Wichtige des Weihnachtsfests zusammenfassen. (Nebenbei: Dem Lehrer wurde erlaubt, das Copyright für den Rap für sich anzumelden, damit das Stück nicht so für jeden in der Gegend herumliegt. Das kostete dann für alle an der Entstehung Beteiligten je einen Schokonikolaus.)
Es gab auch den Gedanken, eine typische Weihnachtsmusik als Intro abzuspielen und zum Percussion-Start nach und nach auszublenden. Weil die Gruppe sich aber nicht einigen konnte, ob etwas Jingle-Bells-artiges, ein Ihr Kinderlein kommet-Chor oder irgendein anderes typisch weihnachtliches Lied dazukommen sollte, kam jemand auf die Idee, Glocken abzuspielen, die zum Fest läuten.
Die Gruppe hat dann der Klasse die Rhythmen beigebracht. Cowbell und Claves wurden von jeweils einem Kind gespielt, Caxixi, Bongos und Conga verdoppelt. Einzelne Kinder haben dazu die Sätze solistisch vorgetragen und die Klasse hat sie als verstärkendes Echo wiederholt. Mit diesem Teil unserer Musik vom Tag sind wir beim Klassenweihnachtskonzert aufgetreten. Ein gutes Stück vom Vormittag.

 

 

Der Nachmittag – Musik nach der Schule

Die Kinder haben festgestellt, dass der Nachmittag die Zeit ist, in der sie am meisten ihre eigene Musik wählen, wenn sie nach Schule und Hort zu Hause ankommen. Es geht bei den meisten dann um das Musikhören und zwar ziemlich direkt verbunden mit dem Gefühl, die Musik zu brauchen, sie einzusetzen, um Emotionen zu begegnen, zu verstärken oder zu mildern. Viel deutlicher als bei unterrichtlichen Zuordnungen von Musik zu Ausdruck und Charakter benennen die Kinder das, was die ausgewählte Musik leisten soll:
„Ich brauche Musikstück XY
1. zum Abhängen – Chillen – Entspannen – Beruhigen – Einschlafen
2. zur Ablenkung – gegen die Stille – einfach so 3. zur Aufmunterung – zum Wachwerden – zum Tanzen und Herumtoben
4. zum Ausrasten – zum Wutrauslassen.“
Die Kinder bringen ihre Musikstücke als CD oder mp3 mit oder spielen sie eine Minute lang über ihre Streamings oder das Smartboard (Youtube) ab. An den vier Wänden des Klassenraums hängt jeweils eine der vier aufgeschriebenen Wortgruppen (1.-4.). Nach dem Abspielen stellen sich die Kinder vor das Plakat, was ihrer Meinung nach am besten die Aufgabe dieser Musik beschreibt.
In dem Projekt von 2017 war Castle on the Hill von Ed Sheeran der „meistbenutzte“ Song bei diesen Kindern. Viele von ihnen stellten sich zur Funktion 3., aber es gab auch Zuordnungen zu 2., was vor allem dann so ist, wenn es eine aktuelle Musik ist, die schon so oft gehört wurde, dass sie auch ganz indifferent wie eine Klangtapete wahrgenommen wird. Lebendig war das Gespräch darüber, wie oft man ein Lied hört, bis es ein Lieblingslied werden kann und wie oft man es hört, bis man es nicht mehr leiden kann, bis es abgenutzt ist. Dabei wird besonders deutlich, dass es meistens nicht ein Lied ist, das gut oder schlecht ist, sondern dass unser Gebrauch erheblich dazu beiträgt, wie positiv oder negativ es auf uns wirkt.

Der Abend – Musik mit Freundinnen und Freunden

Die Schülergruppe, die sich um „Musik abends“ gekümmert hatte, meinte, dass es da einfach ums Tanzen ginge: allein im Zimmer, mit Freundinnen oder richtig auf einer Party. Dass „tanzen“ nicht für alle dasselbe bedeutet, war den Kindern schon klar und so wollten wir herausfinden, welche Musik aktuell die meisten von ihnen zur Bewegung herausfordert.
Die Spielregel dafür war: Wir haben verschiedene Musikstücke, zu denen man sich gut bewegen könnte. Welche, das legt die Gruppe fest. Und dann werden sie nach und nach für jeweils eine Minute gespielt. Wenn mehr als die Hälfte der Klasse aufsteht und tanzt, gibt es eine halbe Minute Zugabe. Wenn in den ersten zwanzig Sekunden niemand aufsteht, wird gleich abgebrochen.
Es gab ein Gewinnerstück, aber der Hauptgewinn dieser Arbeit war, dass diese Schülergruppe lernte, für Partymusik gut hinzuhören, z. B. nach Bewegungsimpulsen zu forschen und nicht nur dem Lieblingsstück einen Platz im Setting zu geben. Dieser Gruppe wurde dann auch die Auswahl der Faschingspartymusik 2018 anvertraut, wo man schlechte Erfahrungen ein Jahr vorher mit ständigem An und Aus der Musik und „musst du sofort spielen“ und „nee, doch nicht“ gemacht hatte.
… and the Winner 2017 was: Chained to the Rhythm von Katy Perry. Bis auf einen Tanzmuffel waren alle unterwegs.

Die Nacht – Musik zum Einschlafen

Wozu soll man in der Schule Abendlieder lernen? Singmotivationen sind nicht so leicht herzustellen und schon gar nicht mit diesem Thema, morgens in einem mehr oder weniger schönen, hellen Klassenraum. Fast kein Schulliederbuch ohne Der Mond ist aufgegangen, aber vor allem im städtischen Raum mit viel Lärm und viel Migration und viel Kampf um Selbstbehauptung schwierig.
Ein Gedanke kam zumindest zum Nachdenken in Betracht: Wer auf kleine Geschwister aufpasst oder wer sogar für Geld mal babysitten möchte, braucht Einschlaflieder. Und diese weich und relativ hoch zu singen, ist ein Wert für die Ruhe, die damit herzustellen ist.
Besonders ertragreich war noch ein anderer Ansatz, zugegeben vom Lehrer erfragt, aber mit erstaunlichem Erfolg umgesetzt: Hat eigentlich noch irgendjemand hier seine Schlafspieluhr? Da gibt es jede Art von Tier, Wesen, Geist. (Ein Kind hatte einen singenden Goudakäse zum Aufziehen, der Lalelu abspielte.)
Die Kinder brachten fast so viele Spieluhren für die Nacht mit wie Wecker für den Morgen. Wir testeten, wie lange das Lied jeweils nach einem Aufzug spielte. Dann spielten wir sie hintereinander ab, von der kürzesten bis zur längsten Dauer. Es gab:
Weißt du, wie viel Sternlein stehen (3x)
Schlaf, Kindchen, schlaf (2x)
Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein (2x)
La-Le-Lu (2x)
Guten Abend, gut‘ Nacht (2x)
Der Mond ist aufgegangen (1x)
Guter Mond, du gehst so stille (1x)
Jemand hatte die Idee, sie dann alle durcheinander zu spielen wie bei den Weckern. Aber das Gemisch der Melodien in verschiedenen Tonarten und Tempi wirkte eher nervig als interessant und hatte mit Einschlafmusik gar nichts mehr zu tun.
Die erste Strophe von Der Mond ist aufgegangen wurde immerhin noch gelernt. Inwieweit das Lied dann live beim Baby-ins-Bett-bringen einsetzbar war, ist hier nicht überliefert.

Deutsch und Kunst

Im Fach Deutsch wurde begleitend zu dem Musikprojekt Zeit gegeben, um Elfchen zu erstellen, diese kleinen fünfzeiligen Gedichte, die ein Wort, zwei, dann drei, dann vier Wörter und dann ein letztes als Überwort, als Pointe, Zusammenfassung oder Schlusspunkt enthalten. Jedes Kind hat ein Elfchen geschrieben und sich dafür eine der fünf Tageszeiten ausgesucht. Die schönsten fünf wurden ausgewählt, kamen aufs Plakat und sind hier abgedruckt.
In Kunst sind abstrakte Bilder gemalt bzw. mit Materialien gerissen und geklebt worden, die die Energien einer Tageszeit symbolisieren. Manche Kinder malten einen Sonnenaufgang, manche eine morgendliche Weckzeit auf der Uhr. Für den Vormittag wurden chaotische Wimmelbilder hergestellt, teils mit, teils ohne Noten, für den Nachmittag eine Gartenlandschaft, für den Abend ein Partyleuchtenmeer und für die Nacht ein Sternenhimmel bzw. ein Vollmond mit Kratern und Maren. Leider haben alle Kinder ihre Bilder mitgenommen und wir haben vergessen sie zu fotografieren. Niemand dachte daran, das Projekt mal in einer Zeitschrift vorzustellen. Eine gute Gelegenheit, ganz neu darüber nachzudenken.