Zusammen sind wir stark
Meinhard Ansohn
Zusammen stark sein, das klingt verlockend. Gemeinsame Stärke in musikalischem Handeln entwickeln, das wäre schön, aber wie geht das und geht das überhaupt allein aus der Musik heraus?
Zutaten für ein „Zusammen“ im Musikunterricht
Musikunterricht ist neben dem Sportunterricht ein Fach, das zugleich individualisierend und kollektivierend wirken kann. Das eigene Konzept von „sportlich“ oder „musikalisch“ sein, ist bei jedem unterschiedlich und oft ziemlich festgelegt: Ich kann oder kann nicht, ich lerne alles oder ich lerne das nie, das sind Setzungen, die in anderen Sachfächern oft weniger stark sind. Kinder, die mit sehr unterschiedlichen Musikkonzepten in der Grundschule als heterogene Gruppe zusammenkommen, scheinen im Extremfall nicht gemeinsam unterrichtbar zu sein. Eine lernt in raschem Tempo Violine zu spielen, die Andere kann hoch und tief nicht unterscheiden usw.
Dagegen bieten Musizieren, Singen, Spielen, Hören, Tanzen viele kollektive Aktionsfelder, die geeignet sind, Gruppen zusammenzufassen, auch mit unterschiedlichen Bildungs-, Kultur- und Sozialprägungen. Musikalische Gruppenvorbilder wie Bands, Orchester, Spielmannszüge oder Tanzgruppen sind – noch – Beispiele für absolutes Kollektivhandeln. Im Internet sind die Einzelstars, Youtuber, Influencer bereits starke Zukunftsidole mancher Kinder. Wir sollten auf erfolgreiche Gruppen zumindest genauso hinweisen wie auf Stars, die sich – vermeintlich – allein durchsetzen und die Überlegenheit des Ego preisen. Wir brauchen im Musikunterricht unserer Grundschule stärkende Rituale, Aktivitäten in der Gruppe, deren Regeln bekannt sind und respektiert werden und die Erweiterungen unserer musikalischen Potenziale möglich machen.
Rhythmuskreis – eine vertraute Runde
Oft im Rhythmuskreis zu spielen, fördert die Sicherheit in der Gruppe. Unsere Monatsrhythmen sind einfache Pattern, die für sich stehen können, aber auch durch melodische und harmonische Zutaten angereichert werden können und gegebenenfalls zu Begleitungen für Lieder und Songs werden können.
In der MUSIK in der Grundschule 1/2012 („Rhythmus“) wurde der Rhythmus R-H-Ypsilon-T-H-Mus vorgestellt. Er wurde erarbeitet, mit verschiedenen Körperinstrumenten und Perkussionsinstrumenten gespielt. Wir finden nun neue Spielregeln wie etwa die „wandernde Wolke“ (Nur drei nebeneinander sitzende Kinder spielen gemeinsam. Dann wandert der Rhythmus ein Kind weiter, auf der anderen Seite hört eines auf zu spielen) oder die „Talsperre“ (Alle zehn Kinder weit sitzt im Kreis eines mit einem Gong oder einer Basstrommel. Das erste Kind beginnt mit dem Rhythmus, immer eines kommt dazu, so wird es laut und lauter bis zum neunten Kind und das zehnte beendet den Durchgang mit seinem Trommel- oder Gongschlag. Anschließend fängt beim elften Kind im Kreis ein neuer Durchgang an. Das Ganze lässt sich durch Umsetzungen noch weiter differenzieren, verlängern oder verkürzen usw.)
Wir geben dem Rhythmus neue Wörter, z. B. Ich-Sätze: Ich bin Superman und bin stark. Ich bin Superfrau und bin cool. Ich spiel‘ Trommel hier und das laut. Ich mag Apfelmus, oft und viel. Ich kau‘ Kaugummi jeden Tag. Ich muss leise sein, Schwester schläft. Ich bin Superbass und bin tief. Ich bin Klingestab und bin hoch. Ich bin Klackeklack und bin hart. Ich bin Wischewasch und bin weich u. a. Die Kinder finden oft viele brauchbare Sätze, aber zur Not sollten immer Reserven da sein, damit bei fehlenden Ideen für alle etwas da ist.
Zu den Ich-Sätzen suchen wir passende Instrumente im Musikraum und bauen daraus eine „R-H-Ypsilon“-Folge, die z. B. immer lauter, immer leiser, immer schneller, immer hölzerner wird. Dann besprechen wir, wie der Schluss sein soll (Alle gemeinsam? Ein Instrument als Letztes? Mitgesprochen oder ohne Wörter?) und wir spielen das Stück.
Alle sind individuell beteiligt, aber reden bei der Gesamtgestaltung mit, wobei sie sich teilweise genau auf die Anderen beziehen müssen. Zusammen stark sind wir, wenn wir etwas gespielt haben, das am Ende einen musikalischen Sinn bekommt. Das trifft auf alle Instrumentalspiele zu. Hier sind der eigene Erfindungsgeist und die Notwendigkeit des aufeinander Hörens noch mehr stärkend als das Bewältigen einer festgelegten Aufgabe.
Tanz im Umbruch
Tanz in der Grundschule funktioniert noch immer da, wo die Tradition der Schule das Tanzen von Anfang an trägt, am besten noch in Kommunen, wo auch öffentlich Jung und Alt tanzen. Zu beobachten ist aber an vielen Schulen ein Rückgang des gemeinschaftlichen Tanzens in der Klasse: Kinder werden von MitschülerInnen nicht an den Händen angefasst, weil sie schwitzen, weil sie nicht gemocht werden, weil sie ihre Finger in den Mund stecken, weil sie Tintenfinger haben, weil muslimische Mädchen Jungen nicht anfassen dürfen, weil Jungen mit Mädchen irgendwelche Probleme haben usw. Kreistänze, die früher selbstverständlich waren, geraten an vielen Schulen ein bisschen ins Abseits, weil es diese grundlegenden Störungen von Gemeinschaft zunehmend gibt und weil das Repertoire geeigneter Tänze unbekannter wird. Da die alten „Schultänze“ in ihrer Klanglichkeit meist nicht dem Musikhörverhalten von heute entsprechen, ist es notwendig, früh die Unbefangenheit der Kleinen über das Tanzen in diese Volks- und Gesellschaftstanzformen einzuführen, wo sie dann auch lange akzeptiert bleiben.
Und bei den Großen, wenn sie nicht getanzt haben? Einfache Schritte für Line Dances werden gebraucht, seit-ran, kick-dreh, kreuz-vor, kreuz hinter, bounce-schnipp für Popsongs im Viervierteltakt, um etwas Einfaches zu choreografieren oder selbst zu erfinden. Tanzspiele wie Stopptanz, Würfeltanz, Magic Step werden wichtiger. (Beim „Magic Step“, einer Art Stopptanz, wird eine aktuelle bewegungsintensive Musik gespielt. Alle stehen im Raum verteilt wie Skulpturen und zwei „Magier“ gehen im freien Tanz durch den Raum, berühren eine Skulptur, nehmen deren Platz ein, während die berührte Person zum Magier wird usw.)
Auch die „Großen“ mögen in Zeiten der körperlichen Verunsicherung Musik in Bewegung, kein Problem im Freundes- und Freundinnenkreis mit selbst gewählter Musik, aber schon eins im schulischen Rahmen. Choreografien in Gruppenarbeit kommen dem entgegen, wenn die Gruppen sich ihre Musik selbst wählen dürfen.
Wenn die Töne Gesellschaft brauchen: Wolken und Regen
Auch Töne wollen manchmal zusammen sein. Wir sitzen im Raum verteilt. Jeder hat einen klingenden Metallofon-Stab, möglichst gut gestimmt und mit weichem Schlägel, damit Schrilles vermieden wird. Eine „KlangmeisterIn“ hat einen Zauberstab. Ein Kind sitzt mit einem Rainmaker oder einem großen Schüttelrohr in der Mitte. Dann tippt das Klangmeisterkind jemanden an, der ab jetzt wiederholt seinen Ton spielt. In loser Folge kommen immer mehr dazu. Wenn das Regenkind das Gefühl hat, mehr passt jetzt nicht zusammen, dann ist quasi die „Wolke voll“ und der Rainmaker beendet die vorherige Klangwolke. Alle hören auf zu spielen und es wird noch mal nachvollzogen, wie viele verschiedene Töne da waren, bis etwas als „zu voll“ empfunden wurde.
Das Ganze kann auch mit gezielter Anordnung der Töne im Raum gespielt werden, z. B. nur „e“ auf einer Seite, dann nur „h“, dann nur „g“, dann vielleicht „d“ und „fis“ und „es“ … Das führt vom Einklang über den Zwei- und Dreiklang zur Dissonanz. Wenn wir dem Spiel eine „Lernwendung geben wollen, könnten wir zu jedem Durchgang noch jemanden protokollieren lassen, welche Töne nacheinander bis zum Abbruch gespielt wurden und dann über Zusammenklänge reden.
Nachmacher, B-Mannschaften, Wandergruppen
Gemeinsam sind wir stark, das klingt nicht nur wie ein Gewerkschaftsmotto, das ist auch der Mut machende Hintersinn der Bremer Stadtmusikanten, die jeder für sich allein alt und nutzlos waren, sich aber zusammenfanden, um sich mit Musik ein gemeinsames Heim zu erstreiten. (In MUSIK in der Grundschule 4/2000 „Winterzeit – Märchenzeit“ gibt es das als Musical von Heinrich Herlyn.)
Wer feste Vorgaben braucht, findet in den Bremer Stadtmusikanten ein gutes Bild für gemeinsames Sich-gegenseitig-stärken und mag dieses Musical aufführen. In einer Klasse, die gern Geschichten erfindet, könnten wir uns dem Zeichner Peter Gayman anschließen, der als Postkarte eine B-Mannschaft gezeichnet hat: Schwein, Huhn, Fisch und Schmetterling stehen da und singen. Gut, Bremen ist schon fest in der Hand von Esel, Hund, Katze und Hahn und wir sind nicht die B-Mannschaft. Aber vielleicht erfinden wir eine weitere Gruppe z. B. mit Pferd, Schaf, Schildkröte und Maus und ziehen los nach Jena, München oder Kiel in die nächste größere Stadt von unserer Schule.
„Wir singen unser Lied, wenn uns keiner dabei sieht, wenn uns keiner stört und es keiner hört.“ Damit wandern wir in die Welt und holen abends unsere Instrumente heraus, um uns damit in den Schlaf zu singen. Wenn dann am Ende des Weges das Haus gefunden ist, wo wir leben wollen, singen wir: „Wir singen unser Lied, dass uns jeder dabei hört, dass es jeden stört und er schnell abzieht.“
Zusammen sind wir stark – wozu? Ein Zwischenruf
Zusammen stark sein wollen? Wozu eigentlich und wie geht das? Tatsächlich sind Gruppen aus schwachen Individuen politisch oder sozial eine gefährliche Mischung. Um positive Stärke zu gewinnen, braucht es genauso starke Einzelne, Respekt füreinander und für die Unterschiedlichkeit schlechthin. Das kann natürlich Musikunterricht nicht allein leisten und hier soll auf keinen Fall der Erziehung durch Musik oder Gemeinschaftszwang das Wort geredet werden.
Liedbeispiele für nachdenkliche Inhalte zu Aspekten von Identität hatten wir immer wieder in MUSIK in der Grundschule: Anders als du (Heft 2/2000 „Kinder in Europa“), Verschiedenes (Heft 3/2008 „Irgendwie anders“), Es ist der gleiche Wind (2/2011 „Unsere Schule“). Dort finden sich auch weitere Unterrichtsideen, wie mit musikalischen Mitteln aus der Verschiedenheit und der Freude daran gemeinsame Stärke gewonnen werden kann.
Stark sein, sich stärken, um gemeinsam stark zu sein, dazu braucht es neben dem Empfinden eigener Stärken ein Gefühl dazuzugehören. Im Unterricht können Gruppenarbeiten dieses fördern, aber auch in größeren Zusammenhängen gibt es die Chance durch Teilhabe, durch Dabeisein ohne Zwang Gemeinsamkeit zu spüren, die den eigenen Platz festigt und stärkt.
Eine musikalische Schulgemeinschaft – vier Beispiele
1. Wie ein Lied für die eigenen Zwecke umgedichtet werden kann, zeigt hier der Artikel von Christina Bußmann. Immer mehr Schulen kommen auf den Gedanken, identitätsstiftende Lieder herzustellen und in die Schulgemeinschaft zu integrieren. Sie werden gesungen zu Einschulungsfeiern, Schulfesten, Jubiläen usw. Weitere Möglichkeiten sind Monatsfeiern, Hof- und Treppenhaussingen, all das, was früher in Zeiten des Singzwangs Pflicht war, mit dem kleinen Unterschied, dass die in der Schule Tätigen die Realität oder wenigstens deren wünschenswerten Anteil selbst definieren.
2. Die Pausenlieder von Oliver J. Ehmsen sind ebenfalls Gemeinschaft stiftende Aktionen. Nicht der Textinhalt, sondern die Aufführungspraxis begründet hier das Zusammen-Gefühl. Dadurch, dass hier Schülerinnen und Schüler immer wieder Sonderrollen bekommen, indem sie im Call-and-Response-Modus als Vorsingende hervortreten, stehen sie individuell für einen Moment im Rampenlicht, werden aber von dem Ritual der Gemeinschaft getragen und treten in diese zurück.
3. Das „Rudelsingen“ ist eine relativ neue Singbewegung, die in Münster 2011 ihren Anfang nahm. Viele Menschen, die gern singen, aber sich weder kompetent fühlen, noch zu intensivem Proben Zeit investieren würden, treffen sich zum Spontansingen, Texte lesbar über Beamer, Musik von Live-Begleitern oder Konserve und man fühlt sich singend zusammen stark. Hier wird das Rudelsingen mit Geburtstagsliedern für die Schule thematisiert und in der Schule etabliert.
4. Mach die Robbe ist der aktuellste Fall von Teilhabe an einer virtuellen Internet-„Gemeinschaft“, ähnlich wie beim Cupsong oder den verschiedenen „Hands“-Spielen der letzten Jahre. YouTube verbindet – wie früher die Klatschspiele der Straßenkulturen – Kinder und Jugendliche zu Gemeinschaften, die sich zwar nicht kennen, aber per gemeinsamer Leidenschaft für ein Bewegungsspiel miteinander verbunden sind. Der Lehrer „YouTube“ ermöglicht dabei den NutzerInnen jederzeit ein- oder auszusteigen, viel oder wenig zu lernen, ohne dass von jemandem ein Engagement eingefordert wird. Eine weltweit größtmögliche Gemeinschaft mit gleichzeitig stärkster Individualisierung – und eine Einladung, das Spiel in der echten Schulgemeinschaft zu realisieren.
Die „Eigenen“ und die „Anderen“
Zusammen stark sein, wer möchte das nicht? Aber was ist, wenn sich alles ändert? Ein Problem, das vor allem aus Sportvereinen bekannt ist: Eben noch war der Sympathieträger beim eigenen Verein, schon wird er abgeworben, zieht um, sieht bessere Perspektiven und spielt woanders. In manchen Stadien und Hallen gibt es für die „Rückkehrer“, die nun gegen die Heimmannschaften spielen, Pfiffe.
Und auch die Schülerinnen und Schüler können das erleben: Versetzung in eine andere Klasse, Umzug in eine andere Schule und schon sind die Eigenen die Anderen. Zumindest ist das nicht einfach, die simple Zuordnung beizubehalten, wo jemand hingehört und für wen man jubelt.
Aus „immer hey“ und „immer buh“ wird manchmal Sprachlosigkeit und bestenfalls ein Nachdenken. Die Geschichte vom (erfundenen) Boris Klatt singen wir in den Strophen erzählend. Im Refrain wird dann alles „rausgehauen“, was gerade Stand der Dinge ist. Ein Lied zum Denken und Fühlen.